AG Rüdesheim, Az: 3 C 208/14, Beschluss vom 04.09.2014
Bei einer Kollision beim Spurwechsel im Reißverschlussverfahren ist zulasten des Spurwechslers ein Anscheinsbeweis des überwiegenden Verschuldens nach § 7 Abs. 5 StVO gegeben. Dem Bevorrechtigten obliegt der Nachweis der Unabwendbarkeit. Da in einer Reißverschlusssituation der eigentlich Bevorrechtigte nach § 7 Abs. 4 StVO gegebenenfalls verpflichtet ist, einen Spurwechsel zu ermöglichen, besteht für den Idealfahrer eine erhöhte Beobachtungs- und auch Sorgfaltspflicht, auch gegenüber solchem Verkehr, der noch nicht vor oder auf gleicher Höhe ist, sondern von hinten kommt.(Rn.34)(Rn.38)(Rn.39)
Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger 25 % des aus der Inanspruchnahme seiner Vollkaskoversicherung bei der … Allgemeine Versicherung AG zur Versicherungs Nr. … in Folge des Verkehrsunfallereignisses vom 11.9.2013 auf der B 42 km: 2.300 in Eltville entstandenen und künftig entstehenden Rückstufungsschaden zu ersetzen.
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 75 € zzgl. Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 31.5.2014 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits hat zu 75 % der Kläger und haben zu 25 % die Beklagten als Gesamtschuldner zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Parteien können die Vollstreckung gegen sich abwenden durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des jeweils gesamt gegen sie vollstreckbaren Betrages, sofern nicht die vollstreckende Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
Der Kläger begehrt Schadensersatz von den Beklagten bzw. die Feststellung der Schadensersatzverpflichtung aus einem Verkehrsunfall vom 11.9.2013.
Der Kläger ist Eigentümer eines Audi A6 mit dem amtlichen Kennzeichen …. Die Beklagte zu 1) ist die Kfz-Haftpflichtversicherung, die Beklagte zu 2) Halterin des unfallgegnerischen VW, der vom Inhaber der Beklagten zu 2), Herrn L, gefahren wurde.
Der Kläger und Herr L. befuhren an diesem Tag gegen 10 Uhr 45 die B 42 in Richtung Wiesbaden. Zwischen den Ausfahrten Eltville und Walluf befand sich eine Baustelle, so dass kurz nach der Ausfahrt Martinsthal zwei Fahrspuren zu einer zusammengeführt wurden. Dies war auch durch entsprechende Hinweisschilder gekennzeichnet.
Der Kläger befuhr die rechte, Herr L. die linke der beiden Fahrspuren. Letztere endet durch Begrenzungsbarken und leitet infolge der Baustelle auf die rechte Fahrbahn.
Beim Wechsel auf die rechte Fahrspur kollidierte das Beklagtenfahrzeug mit dem hinteren linken Kotflügel des klägerischen Fahrzeugs. Der Unfall wurde polizeilich aufgenommen.
Am klägerischen Fahrzeug entstand Sachschaden, wobei das Fahrzeug hinten links beschädigt wurde. Der Gesamtschaden beläuft sich auf 3.278,80 €; er setzt sich zusammen aus 3.017,80 € Reparaturkosten, 236 € Nutzungsausfallentschädigung und 25 € allgemeiner Kostenpauschale. Die Beklagte zu 1) regulierte außergerichtlich 2/3 und zahlte 2.185,87 €. Für die verbleibenden 1.092,93 € abzüglich einer Selbstbeteiligung von 300 € nahm der Kläger seine Kaskoversicherung in Anspruch. Er ist bei der … Versicherung AG mit der Versicherungsnummer … vollkaskoversichert. Hierdurch entsteht ihm in der Zukunft ein Rückstufungsschaden, der sich voraussichtlich auf 857,40 € beläuft.
Der Kläger behauptet, der Geschäftsführer der Beklagten zu 2) habe die Fahrspur gewechselt, ohne auf den vor ihm liegenden Verkehr zu achten. Für ihn sei der Unfall unvermeidbar gewesen.
Sein Fahrzeug habe sich vor dem der Beklagtenseite befunden. Der Beklagte zu 2) habe sich nicht bereits in einer Seitwärtsbewegung befunden, denn sonst wäre es zu einer Kollision mit einem Schaden im vorderen Fahrzeugbereich des klägerischen Fahrzeugs gekommen. Der Beklagte zu 2) habe schlichtweg den Fahrstreifen gewechselt, ohne sich zu vergewissern, dass andere Verkehrsteilnehmer nicht gefährdet würden.
Der Kläger beantragt,
1. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger den aus der Inanspruchnahme seiner Vollkaskoversicherung bei der … Allgemeine Versicherung AG zur Versicherungs Nr. … in Folge des Verkehrsunfallereignisses vom 11.9.2013 auf der B 42 km: 2.300 in Eltville entstandenen und künftig entstehenden Rückstufungsschaden zu ersetzen, und zwar in voller Höhe;
2. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 300 € zzgl. Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagten beantragen, die Klage abzuweisen.
Die Beklagten behaupten, Herr L. habe bereits zuvor durch rechts gesetzten Blinker angezeigt, dass er auf die rechte Spur wechseln wolle. Der Kläger habe den Geschäftsführer der Beklagten zu 2) jedoch nicht einfädeln lassen wollen, sondern sein Fahrzeug sogar noch beschleunigt, obwohl sich das Fahrzeug des Geschäftsführers der Beklagten zu 2) vor ihm befunden habe und in der Bewegung von der linken auf die rechte Spur gewesen sei.
Das Gericht hat die Verkehrsunfallakte des RP Kassel mit dem Aktenzeichen 961.413312.8 beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht.
Es hat desweiteren den Kläger und den Geschäftsführer der Beklagten zu 2) zum Unfallhergang informatorisch angehört.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig, jedoch nur zu 25 % begründet; im Übrigen war sie abzuweisen.
Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten fehlt es dem Feststellungsantrag des Klägers auch nicht an dem nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderlichen Feststellungsinteresse als besondere Prozessvoraussetzung. Insbesondere ist der Kläger nicht darauf zu verweisen, statt der Feststellungs- eine Leistungsklage zu erheben. Denn auch wenn dem Kläger ein Teil des Rückstufungsschadens bereits entstanden ist und dieser vorläufig beziffert werden kann, bezieht sich diese Bezifferung doch nur auf einen Teil und ist auch nur vorläufig. Wenn nur ein Teil des Schadens beziffert werden kann, muss der Kläger seine Klage nicht in einen Leistungs- und einen Feststellungsteil aufspalten, sondern kann eine einheitliche Feststellungsklage erheben (BGH v. 25.4.2006, VI ZR 36/05 mwN). Im Übrigen kann der Rückstufungsschaden auch nur vorläufig berechnet werden. Nicht berücksichtigt werden können etwaige Erhöhungen der Beiträge, die durch die Rückstufung höher ausfallen könnten, oder weitere Erhöhungen durch einen Versicherungswechsel.
Die Klage ist jedoch nur teilweise, nämlich zu 25 %, begründet; im Übrigen war sie abzuweisen.
Der Kläger kann von den Beklagten als Gesamtschuldner aus §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 2 StVG, 249 Abs. 1 BGB iVm §§ 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG Ersatz von 25 % seines Rückstufungsschadens sowie der Selbstbeteiligung von 300 €, mithin 75 € verlangen.
Denn die Beklagte zu 2) als Halterin war dem Kläger insgesamt mit einer Quote von 75 % aus dem streitgegenständlichen Unfall ersatzpflichtig (s. dazu unten); hiervon selbst beglichen haben die Beklagten jedoch nur 2/3. Für das übrige Drittel hat der Kläger seine Vollkaskoversicherung in Anspruch genommen, wobei er dies zu 3/12 (1/4) selbst zu tragen gehabt hätte, die Minderregulierung der Beklagten bezog sich lediglich auf den fehlenden Anteil zwischen 2/3 und ¾, mithin 1/12. Von 4/12 (1/3), auf die sich die Vollkaskoversicherung bezog, ist dies ein Anteil von 25 %.
Zwar ist bei anteiliger Schadenshaftung auch der Rückstufungsschaden als unfallkausaler Schaden grundsätzlich anteilig der Haftungsquote zu ersetzen (BGH v. 25.4.2006, VI ZR 36/05 mwN). Dasselbe gilt für die zu zahlende Selbstbeteiligung des Geschädigten. Vorliegend sind diese Schäden jedoch nicht mit der allgemeinen Haftungsquote zu ersetzen, also 75 %, sondern nur zu dem Anteil, zu dem er auf der Haftung beruht, nämlich mit dem Anteil, mit dem er einen Schaden ersetzt, den sonst die Beklagten hätten ersetzen müssen. Insofern handelt es sich um einen Folgeschaden. Denn die Beklagten haben bereits 2/3 reguliert; die Vollkaskoversicherung wurde lediglich für das verbleibende Drittel in Anspruch genommen.
Dem Kläger steht dem Grunde nach aus §§ 7 Abs. 1 StVG, 249ff BGB ein Anspruch auf Ersatz des ihm durch den Verkehrsunfall entstandenen Schadens zu.
Dass es zu einem Verkehrsunfall im Sinne des § 7 Abs. 1 StVG, d.h. einer Sachbeschädigung bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs, namentlich des Beklagtenfahrzeugs, gekommen ist, und dabei das im Eigentum des Klägers stehende Fahrzeug beschädigt worden ist, ist zwischen den Parteien unstreitig. Die Beklagte zu 2) war Halterin des anderen Fahrzeugs.
Jedoch hat sich der Kläger im Rahmen der Abwägung der beiderseitigen Betriebsgefahren und Verursachungsbeiträge nach § 17 Abs. 2 StVG seine eigene Betriebsgefahr sowie einen Verursachungsbeitrag anrechnen zu lassen. Es kommt daher zu einer Haftungsquote der Beklagten von 75 %.
Denn es ist zum Einen nicht zur vollen Überzeugung des Gerichts nach § 286 ZPO bewiesen, dass der Verkehrsunfall für den Kläger unabwendbar gewesen wäre. Dies wäre erforderlich, um nach § 17 Abs. 3 StVG die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs derart zurücktreten zu lassen, dass eine Haftung des anderen Fahrzeugs zu 100 % gegeben ist. Die Beweislast hierfür trägt diejenige Partei, die sich auf die Unabwendbarkeit beruft (Hentschel/König/Dauer, 40.A., § 17 StVG, Rn 23), d.h. diejenige, die von dem Unfallgegner den Ersatz des vollen Schadens verlangt.
Zudem liegt auch kein so schwerwiegender Verkehrsverstoß der Beklagtenseite vor, dass die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs hiergegen vollständig zurücktreten würde.
Im Übrigen war jedoch ein Verstoß des Geschäftsführers der Beklagten zu 2), der mit dieser als Fahrer eine Haftungseinheit bildet, gegen § 7 Abs. 5 StVO gegeben, der die Mithaftung des Klägers überwiegt.
Der Anwendungsbereich des § 17 Abs. 2 StVG war eröffnet, da es sich um einen Schaden handelt, der beteiligten Kraftfahrzeughaltern untereinander entstanden ist. Da es sich um zwei größere PKW handelte (Audi A6 und VW Caravelle), war insofern die Betriebsgefahr beider PKW gleichermaßen mit 50 % anzusetzen (Hentschel/König/Dauer, 40.A., § 17 StVG, Rn 6; BGH VersR 69, 800).
Im Rahmen der Abwägung nach § 17 Abs. 2 StVG dürfen dabei nur bewiesene Umstände berücksichtigt werden (Hentschel/König/Dauer, 40.A., § 17 StVG, Rn 4; BGH NJW 2007, 506) und Verursachungsbeiträge, die sich erwiesenermaßen auch auf den konkreten Unfall ausgewirkt haben (Hentschel/König/Dauer, 40.A., § 17 StVG, Rn 4, 5).
Zulasten des Beklagten war, auch wenn eine Reißverschlusssituation im Sinne des § 7 Abs. StVO vorlag, ein Anscheinsbeweis des überwiegenden Verschuldens nach § 7 Abs. 5 StVO gegeben.
Das Reißverschlussverfahren nach § 7 Abs. 4 StVO gilt dabei, sobald der Abstand der auf mehreren Fahrstreifen ankommenden Fahrzeuge kein Einordnen auf den durchgehenden Fahrstreifen mit ausreichendem Abstand mehr zulässt (Hentschel/König/Dauer, 40.A., § 7 StVO, Rn 20; OLG Frankfurt a.M. v. 8.12.2003, 16 U 173/03). Das Einfädeln erfolgt erst unmittelbar am Beginn der Verengung, wobei der Nutzer des weiterführenden Fahrstreifens/ der erste Rechtsfahrer Vortritt hat (Hentschel/König/Dauer, 40.A., § 7 StVO, Rn 20).
Vorliegend ist auch nach dem Ergebnis der informatorischen Anhörung davon auszugehen, dass an der Stelle des streitgegenständlichen Unfalls das Reißverschlussverfahren anwendbar gewesen wäre. Denn der Beklagte hat dies behauptet und angegeben, dass auch vor ihm andere Fahrzeuge auf die Spur des Klägers gewechselt hätten. Auch der Kläger gab im Rahmen der Anhörung an, dass alles auf die Verengung zugestrebt habe und er den Sicherheitsabstand eingehalten habe (Bl. 66 d.A). Damit ist unstreitig, dass der Abstand der auf mehreren Fahrstreifen ankommenden Fahrzeuge kein Einordnen des Beklagten vor dem Kläger mit ausreichendem Abstand erlaubt hätte (s. Definition oben).
Indes spricht, ob der Spurwechsel nur im Rahmen des Reißverschlussverfahrens geschah oder nicht, so oder so gegen den Spurwechsler der Anscheinsbeweis des Verschuldens. Dieser gilt auch zulasten des Spurwechslers bei Reißverschlussverfahren (AG Dortmund v. 23.2.2010, 423 C 12873/09; KG Berlin v. 19.10.09, 12 U 227/08), für den das Gefährdungsverbot des § 7 Abs. 5 StVO ebenso gilt (OLG Frankfurt a.M. v. 8.12.2003, 16 U 173/03; AG Dortmund v. 23.2.2010, 423 C 12873/09), wie auch die systematische Stellung dieser Absätze innerhalb der Norm zeigt. Hier besteht in der Regel eine volle Haftung des Spurwechsels (Grüneberg, Haftungsquoten, Rn 147). Wer bei Reißverschluss die Spur wechselt, darf auf einen Vorrang aus § 7 Abs. 4 StVO nicht vertrauen (OLG Frankfurt a.M. v. 8.12.2003, 16 U 173/03).
Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Spurwechsel stets voll haftet. Vielmehr kommt auch eine Haftung desjenigen, der seinen Fahrstreifen beibehält, in Betracht. Diese beruht darauf, dass nach § 17 Abs. 3 StVG die Betriebsgefahr eines Fahrzeugs nur dann zurücktritt, wenn der Unfall für den Fahrer dieses Fahrzeugs unvermeidbar war oder ein besonders grober Verkehrsverstoß der anderen Seite vorliegt.
Der auf dem durchgehenden Fahrstreifen Fahrende darf seinen Vorrang nicht erzwingen (Hentschel/König/Dauer, 40.A., § 7 StVO, Rn 20). Ist für ihn ersichtlich, dass von der Nebenspur im Rahmen des Reißverschlussverfahrens gewechselt wird, hat er sein Fahrverhalten dem anzupassen (KG Berlin v. 19.10.09, 12 U 227/08; AG Dortmund v. 23.2.2010, 423 C 12873/09; Grüneberg, Haftungsquoten, Rn 147; Hentschel/König/Dauer, 40.A., § 7 StVO, Rn 20).
Unklar ist in der Rechtsprechung, ob der Bevorrechtigte beweisen muss, dass der Wechsel nicht ersichtlich war, oder ob der Spurwechsler beweisen muss, dass der Wechsel ersichtlich war. Nach einer Auffassung kommt derjenige, der einen Spurwechsel erkennen könnte, aber nicht reagiert, den Pflichten eines Idealfahrers nicht nach und der Unfall war für ihn nicht unabwendbar (AG Dortmund v. 23.2.2010, 423 C 12873/09; angedeutet bei Grüneberg, Haftungsquoten, Rn 158; im Ergebnis ebenso AG Rüsselsheim, NZV 2001, 308). Daher habe der Bevorrechtigte die Unabwendbarkeit zu beweisen. Nach einer anderen Auffassung (KG Berlin v. 19.10.09, 12 U 227/08; v. 3.9.2009, 12 U 136/09) muss feststehen, dass der Bevorrechtigte die Gefahr der Kollision auf sich hätte zukommen sehen müssen, um eine Mithaftung zu rechtfertigen. Beide Auffassungen rechtfertigen die jeweilige Entscheidung jedoch nicht näher, lediglich Grüneberg spricht von einer erhöhten Sorgfaltspflicht des bevorrechtigten Fahrers. Hierbei gilt, dass bei einem „normalen“ Spurwechsel außerhalb des Reißverschlussverfahrens der Anscheinsbeweis des Verschuldens besteht (Hentschel/König/Dauer, 40.A., § 7 StVO, Rn 17 aE).
Vorliegend ist es in Anbetracht des Zwecks des Anscheinsbeweises sowie der Unterschiede zwischen den beiden Situationen – normaler Spurwechsel und Spurwechsel im Rahmen des Reißverschlussverfahrens – vorzugswürdig, nicht den Anschein des alleinigen Verschuldens des Spurwechslers anzunehmen, sondern dem Bevorrechtigten nach wie vor den Nachweis der Unabwendbarkeit aufzuerlegen (so wohl auch LG Darmstadt v. 15.3.2001, 6 S 464/00, das einen Anscheinsbeweis zulasten des Spurwechslers annimmt, allerdings gleichwohl zu einer Schadensteilung gelangt). Denn der Spurwechsel im Rahmen des Reißverschlusses ist für denjenigen, dessen Spur nicht endet, im Gegensatz zum normalen Spurwechsel durchaus in Betracht zu ziehen. Damit entfällt die für die Annahme eines Anscheinsbeweises erforderliche Typizität (vgl. dazu Zöller/Greger, 30.A., vor § 284 ZPO, Rn 30c), die darauf beruht, dass der behauptete Vorgang zu jenen gehört, die schon auf den ersten Blick nach einem durch Regelmäßigkeit, Üblichkeit und Häufigkeit geprägten Muster abzulaufen pflegen (Zoller, aaO). Vielmehr ist in einer Reißverschlusssituation der eigentlich Bevorrechtigte nach § 7 Abs. 4 StVO gegebenenfalls verpflichtet, einen Spurwechsel zu ermöglichen. Aus diesem Grund besteht für den Idealfahrer eine erhöhte Beobachtungs- und auch Sorgfaltspflicht, auch gegenüber solchem Verkehr, der noch nicht vor oder auf gleicher Höhe ist, sondern von hinten kommt. Diese Situation ist anders als die des Spurwechsels bei durchgehenden Spuren, mit dem aufgrund des Grundsatzes des „Fahrstreifenfahrens“ nicht automatisch gerechnet werden muss (Hentschel/König/Dauer, 40.A., § 7 StVO, Rn 16). Hier darf grundsätzlich auf strikte Beibehaltung des Fahrstreifens vertraut werden (Hentschel/König/Dauer, 40.A., § 7 StVO, Rn 16).
Indes besteht nach wie vor eine typische Situation dahingehend, dass von einem überwiegenden Verschulden des Spurwechslers ausgegangen werden muss, der entweder die erforderliche doppelte Rückschau unterlassen hat oder übersehen hat, dass seine Spur zu Ende geht und deswegen – oder aus Rücksichtslosigkeit – unterlassen hat, seine Geschwindigkeit anzupassen, um gegebenenfalls auf der Spur vor dem Spurende stehen bleiben zu können. Ihn treffen nach wie vor explizit die Pflichten aus § 7 Abs. 5 StVO. Dies rechtfertigt es, zulasten des Spurwechslers von einem überwiegenden Verschulden auszugehen.
Streitig, aber nicht bewiesen war dabei, ob sich das Beklagtenfahrzeug vor dem Unfall vor oder hinter dem klägerischen Fahrzeug befand. Hätte sich das Beklagtenfahrzeug nachweislich vor dem klägerischen Fahrzeug befunden, wären die den Kläger aus § 7 Abs. 4 StVO treffenden Pflichten zur Rücksichtnahme höher gewesen, da der Kläger dem Geschäftsführer der Beklagten das Einordnen hätte ermöglichen müssen. Dass dies nicht bewiesen werden konnte, geht nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises zulasten der Beklagten, denen es obliegt, die typische Situation, die dem Anscheinsbeweis zugrunde liegt, zu widerlegen.
Dabei wurde anhand der informatorischen Anhörungen der Parteien nicht hinreichend klar, so dass dies zur vollen Überzeugung des Gerichts im Sinne von § 286 Abs. 1 ZPO bewiesen wäre, dass die Sachverhaltsschilderung der Beklagtenseite zutrifft. Der Geschäftsführer der Beklagten hat sich zwar übereinstimmend mit dem schriftsätzlichen Vortrag eingelassen und die Situation so geschildert, dass der Kläger noch versucht hätte, ihn zu überholen, obwohl er geblinkt hätte. Indes gibt es keine hinreichenden objektiven Anhaltspunkte dafür, dass dies zutrifft, obwohl dies für die volle Überzeugung des Gerichts im Sinne des § 286 Abs. 1 ZPO erforderlich gewesen wäre. Denn der Kläger hat sich in seiner informatorischen Anhörung gänzlich anders eingelassen, obwohl es ihm nicht hätte entgehen können, wenn er noch in letzter Sekunde versucht hätte, das Beklagtenfahrzeug zu überholen. Gründe dafür, eher den Beklagten als dem Kläger zu glauben, lagen nicht vor. Vielmehr war das Unfallgeschehen für das Gericht nach wie vor offen.
Eine weitergehende Beweisaufnahme durch Einholung eines unfallanalytischen Sachverständigengutachtens, die auch von Amts wegen geschehen kann, war nicht angezeigt. Es fehlt für die Erstellung an objektiven Anknüpfungspunkten, aus denen das Unfallgeschehen näher hätte abgeleitet werden können.
Es ist dem Kläger aber auch nicht gelungen, den Beweis zu führen, dass der Unfall für ihn unabwendbar war. Für die rechtlichen Erwägungen hierzu und die Anforderungen an den Idealfahrer kann nach oben verwiesen werden. Es ist nicht bewiesen, dass der Kläger diesen gerecht geworden ist. Er hat lediglich angegeben bzw. angeben können, dass er das Beklagtenfahrzeug erst bei der Kollision wahrgenommen hat. Ob die fehlende Wahrnehmung auf Unachtsamkeit des Klägers beruht oder das Beklagtenfahrzeug nicht wahrnehmbar gewesen ist, bzw. sich hinter dem klägerischen Fahrzeug befand, steht damit nicht fest. Auch dies hätte, wie dargelegt, nicht durch ein Gutachten festgestellt werden können. In jedem Fall bestand aber eine Verpflichtung des Klägers, den Verkehr auch neben und hinter sich zu beobachten. Dass er dieser in vollem Umfang nachgekommen ist, steht nicht fest.
Es ist auch weder ersichtlich, noch hinreichend substantiiert von der Beklagtenseite vorgetragen, dass der Kläger gegen die ihm obliegende Schadensminderungspflicht verstoßen hat, indem er für den verbleibenden Schaden seine Vollkaskoversicherung in Anspruch genommen hat, obwohl die Haftung der Beklagten, die nicht bereits erfüllt war, nur noch geringfügig war (273 €). Denn es ist nicht ersichtlich, ob der von den Beklagten zu ersetzende Rückstufungsschaden darüber liegt. Im Übrigen verstößt es nicht gegen die Schadensminderungspflicht, die Vollkaskoversicherung in Anspruch zu nehmen – selbst vor einer Inanspruchnahme des Unfallgegners überhaupt! – wenn den Geschädigten eine Mithaftung trifft (BGH v. 29.6.2006, VI ZR 247/05; AG Münster, VersR 2001, 781). Dies ist vorliegend der Fall. Der verführten Inanspruchnahme der Vollkaskoversicherung kann dabei die bei Vorliegen eines Bagatellschadens durchaus gleichgestellt werden, zumal, wenn die anteilige Haftung des Verursachers hinsichtlich des Rückstufungsschadens, wie vorliegend, geringer ist als die Mithaftung des Geschädigten.
Hinzu kommt, dass für den Kläger bei Inanspruchnahme der Vollkaskoversicherung, nachdem die Beklagten weitergehende Zahlungen abgelehnt hatten, gar nicht hinreichend deutlich ersichtlich war, dass der weiterhin von den Beklagten zu ersetzende Schaden im Bagatellbereich liegen könnte. Er ging vielmehr von einer vollen Haftung der Beklagten aus; dann wäre die Inanspruchnahme bei über 700 € gelegen, was nach allgemeinen schadensrechtlichen Grundsätzen – beispielsweise zur Ersatzfähigkeit von Sachverständigenkosten – nicht mehr als Bagatelle bewertet werden kann. Ein Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht nach § 254 Abs. 2 BGB muss aber schuldhaft gewesen sein.
Die verbleibende Haftung von 1/12 war gleichermaßen auf die Selbstbeteiligung von 300 € wie den Rückstufungsschaden zu verteilen. Denkbar wäre zwar auch gewesen, die noch nicht erfüllte Haftung der Beklagten, die berechnet anhand des Sachschadens unterhalb von 300 € lag, allein auf die Selbstbeteiligung anzurechnen. Indes diente diese dazu, die Zahlung der Vollkaskoversicherung insgesamt zu erlangen, war also gleichsam eine Aufwendung des Klägers. Zudem geht die Rechtsprechung des BGH zutreffend dahin, die Inanspruchnahme der Vollkaskoversicherung insgesamt dem Schadensereignis zuzurechnen, auch wenn die nicht vollständige Regulierung durch die Geschädigten nur ein Grund für die Inanspruchnahme war (BGH v. 25.4.2006, VI ZR 36/05). Übertragen auf die Verteilung zwischen Selbstbeteiligung und Rückstufungsschaden bedeutet dies, dass auch hier eine gleichmäßige Inanspruchnahme bzw. Aufwendung anhand der noch offenen Schadensquote erfolgte.
Die Beklagte zu 1) als KfZ-Haftpflichtversicherung haftet dem Kläger als Gesamtschuldnerin neben der Beklagten zu 2) aus § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG.
Die Zinsentscheidung hinsichtlich des Zahlungsantrags beruht auf §§ 280 Abs. 1, 2, 286 Abs. 1 S. 1, 2, 288 Abs. 1 BGB; Rechtshängigkeit lag mit Zustellung der Klage an die Beklagte zu 2) am 31.5.2014 vor.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO, die zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf § 708 Nr. 11, 711 ZPO.